Lehrer(vor)bilder

Ich denke gelegentlich darüber nach, warum ich eigentlich Lehrer geworden bin. Und ich komme immer wieder darauf zurück, dass neben meiner Familiengeschichte und meiner eigenen Schulzeit vor allem einige Figuren aus der Literatur meiner Kindheit und Jugend einen großen Teil zu meiner Entscheidung und meinem Idealbild beigetragen haben. (Für diejenigen, die mich näher kennen, wird erstaunlich sein, dass niemand aus dem Hogwarts-Lehrkörper hier auftauchen wird – ist aber so. :-))

Da wären einmal Direktor Meyer (genannt “der Rex”) und Dr. Waldmann, die beide ihren Dienst im Internat Burg Schreckenstein versehen. Sie erziehen ihre Schüler zu großer Selbstverantwortung und gewähren ihnen ein Maximum an Freiheit. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis wird von Respekt geprägt, es lässt sich beinahe als freundschaftlich bezeichnen. Dadurch wird ein sehr hohes Maß an Offenheit und (gegenseitigem) Vertrauen erreicht, was sich auf den Unterricht und das Verhalten der Schüler äußerst positiv auswirkt. Man lernt daraus: Wenn man Schüler wie selbstständige und selbstverantwortliche Menschen mit Respekt behandelt, werden sie auch dazu.

Auch in diese Buchreihe gehört Sonja Waldmann, die im Mädcheninternat Schloss Rosenfels unterrichtet. Zur ihr findet sich folgende Beschreibung:

“Doch eine Lehrerin gab es, zu der die Mädchen Vertrauen hatten, mit der sie über alles reden konnten, und die viel lieber Kameradin als Respektsperson sein wollte. Sonja. Sie hatte es in kurzer Zeit geschafft, nicht durch Strenge, sondern durch Verständnis die Achtung aller zu gewinnen. […] Sie liebte Menschen, die einen eigenen Willen und eine eigene Meinung haben, die auch mal über die Stränge schlagen, und nicht die farblosen Ewigbraven.”

Auch in dieser Figur finde ich mich wieder, hier dürfte meine eigene Vergangenheit etwas durchschlagen. Auch wenn viele Kolleginnen und Kollegen das vielleicht nicht ganz nachvollziehen können, nur durch diesen “eigenen Willen” entstehen kreative Situationen, spannende Gespräche und Diskussionen und Fragen, die auch etwas für das Leben außerhalb der Schule bringen.

Am meisten inspiriert hat mich allerdings eine Verfilmung eines Buches von Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer in der Version von 1973, in der Joachim Fuchsberger den Hauslehrer der Internatsschüler, Dr. Johannes Bökh, genannt “Justus”, spielt. Bereits als ich sie zum ersten Mal sah, ich muss damals noch in der Volksschule gewesen sein, ging von einer Szene eine besondere Anziehungskraft, eine Faszination aus. Die Schüler hauen außerhalb der Ausgangszeit ihr Internat, um einem Mitschüler zu helfen, der von anderen Schülern gefangengenommen wurde. Es entwickelt sich eine riesige Schlägerei und beim Zurückkommen in die Schule werden die Ausreißer erwischt. Zur “Bestrafung” erzählt ihnen ihr Hauslehrer eine Geschichte:

»Großartig«, rief Matthias. »Gibt’s Kuchen?«

»Wir wollen’s stark hoffen«, meinte der Justus. »Und ehe ich euch jetzt hinauswerfe, will ich euch eine kleine Geschichte erzählen. Denn ich habe ja doch das leise Gefühl, dass euer Vertrauen zu mir noch nicht so groß ist, wie es für euch gut wäre und wie ich’s mir wünsche.«

Der schöne Theodor machte kehrt und wollte auf den Zehenspitzen verschwinden.

»Nein, nein, bleiben Sie nur hier!«, rief Bökh. Dann setzte er sich hinter den Schreibtisch und drehte den Stuhl so, dass er durchs Fenster blicken konnte. Hinaus in den Winterabend.

»Das ist ungefähr zwanzig Jahre her«, erzählte er. »Damals gab es hier in diesem Haus auch schon solche Jungen, wie ihr welche seid. Und auch schon sehr strenge Primaner. Und auch schon einen Hauslehrer. Und der wohnte in genau demselben Zimmer, in dem wir jetzt sitzen … Von einem der kleinen Tertianer, die vor zwanzig Jahren in euren eisernen Bettstellen schliefen und auf euren Plätzen im Klassenzimmer und im Speisesaal saßen, handelt die Geschichte. Es war ein braver, fleißiger Junge. Er konnte sich über Ungerechtigkeiten empören wie der Martin Thaler. Er prügelte sich herum, wenn es sein musste, wie der Matthias Selbmann. Er saß mitunter nachts auf dem Fensterbrett im Schlafsaal und hatte Heimweh wie der Uli von Simmern. Er las furchtbar gescheite Bücher wie der Sebastian Frank. Und er verkroch sich manchmal im Park wie der Jonathan Trotz.«

Die Jungen saßen schweigend nebeneinander auf dem Sofa und lauschten andächtig.

Doktor Bökh fuhr fort: »Da wurde eines Tages die Mutter dieses Jungen sehr krank. Und man brachte sie, weil sie sonst bestimmt gestorben wäre, von dem kleinen Heimatort nach Kirchberg ins Krankenhaus. Ihr wisst ja, wo es liegt. Drüben, am anderen Ende der Stadt. Der große rote Ziegelbau. Mit den Isolierbaracken hinten im Garten.

Der kleine Junge war damals sehr aufgeregt. Er hatte keine ruhige Minute. Und da rannte er eines Tages, weil es seiner Mutter sehr schlecht ging, einfach aus der Schule fort, quer durch die Stadt ins Krankenhaus, saß dort am Bett der Kranken und hielt ihre heißen Hände. Dann sagte er ihr, er komme morgen wieder – denn am nächsten Tag hatte er Ausgang –, und rannte den weiten Weg zurück.

Am Schultor wartete schon ein Primaner auf ihn. Es war einer von denen, die noch nicht reif genug sind, die Macht, die ihnen übertragen wurde, vernünftig und großmütig auszuüben. Er fragte den Jungen, wo er gewesen sei. Der Junge hätte sich eher die Zunge abgebissen, als diesem Menschen erzählt, dass er von seiner kranken Mutter kam. Der Primaner entzog ihm zur Strafe die Ausgeherlaubnis für den nächsten Tag.

Am nächsten Tag lief der Junge trotzdem davon. Denn die Mutter wartete ja auf ihn! Er rannte quer durch die Stadt. Er saß eine Stunde lang an ihrem Bett. Es ging ihr noch schlechter als am Tage vorher. Und sie bat ihn, morgen wieder zu kommen. Er versprach es ihr und lief in die Schule zurück.

Der Primaner hatte bereits dem Hauslehrer gemeldet, dass der Junge wieder fortgelaufen war, obwohl man ihm das Ausgehen verboten hatte. Der Junge musste zum Hauslehrer hinauf. In dieses Turmzimmer hier. Und er stand, damals vor zwanzig Jahren, genau dort, wo ihr vorhin standet. Der Hauslehrer war ein strenger Mann. Auch er war keiner von denen, denen sich der Junge hätte anvertrauen können! Er schwieg. Und so wurde ihm angekündigt, dass er die Schule vier Wochen lang nicht verlassen dürfe.

Aber am nächsten Tag war er wieder fort. Da brachte man ihn, als er zurückkam, zum Direktor des Gymnasiums. Und der bestrafte ihn mit zwei Stunden Karzer. Als sich nun der Direktor am nächsten Tage vom Hausmeister den Karzer aufschließen ließ, um den Jungen zu besuchen und ins Gebet zu nehmen, saß ein ganz anderer Junge im Karzer! Das war der Freund des Ausreißers, und er hatte sich einsperren lassen, damit der andere wieder zu seiner Mutter konnte.

Ja«, sagte Doktor Bökh, »das waren zwei Freunde! Sie blieben auch später beieinander. Sie studierten zusammen. Sie wohnten zusammen. Sie trennten sich auch nicht, als der eine von ihnen heiratete. Dann aber bekam die Frau ein Kind. Und das Kind starb. Und die Frau starb. Und am Tage nach dem Begräbnis war der Mann verschwunden. Und sein Freund, dessen Geschichte ich euch hier erzähle, hat nie wieder etwas von ihm gehört.« Doktor Bökh stützte den Kopf in die Hand und hatte sehr, sehr traurige Augen.

»Der Direktor«, fuhr er schließlich fort, »war damals außer sich, als er im Karzer stand und den Betrug merkte. Da berichtete ihm der Junge, warum der andere immer fortgelaufen sei, und es nahm doch noch ein gutes Ende. Der Junge aber, dessen Mutter im Krankenhaus gelegen hatte, nahm sich damals vor, dass er in dieser Schule, in der er als Kind gelitten hatte, weil er keinem voll vertrauen konnte, später einmal selber Hauslehrer werden wollte. Damit die Jungen einen Menschen hätten, dem sie alles sagen könnten, was ihr Herz bedrückte.«

Und irgendwie konnte ich bereits damals verstehen, was dieser Justus gemeint haben musste. Und vermutlich habe ich mir damals schon vorgenommen, auch einmal “Hauslehrer” zu werden…

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