Die Suche

Es war einmal eine Schule, die von vielen jungen Menschen besucht wurde. Es war keine magische Schule für Zauberei, sie war nicht in einem Schloss untergebracht, auch die Lehrerinnen und Lehrer dort waren mehr oder weniger normale Menschen ohne übernatürliche Fähigkeiten. Und doch lag manchmal ein ganz eigenartiges Etwas über den alten Mauern, das denen, die in ihnen tätig waren, selten ganz bewusst, aber doch ständig bekannt war.

In diese Schule nun gingen auch 26 Mädchen und Buben, die an der Schwelle großer und wichtiger Entscheidungen standen, die ihre Zukunft in die eine oder in die andere Richtung stoßen würden. Einige von ihnen waren unsicher, weil sie sich der Tragweite nicht gewachsen sahen und zweifelten, ob sie dieses oder jenes wirklich wollten. Andere wiederum wussten nur, was für sie keinesfalls in Frage kam und welchen Pfad sie nicht einschlagen wollten, hatten aber noch keinen gefunden, auf dem sie in die Zukunft gehen wollten. Wieder andere hatten sich schon glücklich entschieden, verspürten aber etwas Angst davor, wie der Abschied von den Menschen sein würde, die sie lange Jahre begleitet hatten. Und es gab auch welche, die sich von diesem Besonderen, das ihre Schule umgab, noch nicht lösen wollten und ihre Ausbildung weiterhin ihr fortsetzen wollten. Aber auch in ihren Köpfen machten sich die nahenden Trennungen langsam bemerkbar und verunsicherte sie ein wenig.

Eines Tages betrat die Klassenlehrerin den Raum dieser Klasse, grüßte freundlich wie immer und setzte sich auf den gewohnten Platz am Katheter. Sie rückte ihre Brille zurecht, räusperte sich und sprach: „Meine Lieben, ich habe eine Aufgabe für euch, und wer sie erfüllen kann, der wird sein Glück und seine Zufriedenheit im Leben finden.“ Die Angesprochenen lauschten gespannt, dieses Versprechen war in ihrem Sinne. Was mochte diese Aufgabe sein, für deren Erfüllung so hoher Lohn winkte? „Nun, die Sache ist eigentlich recht einfach“, fuhr die Lehrerin fort. „Ich entlasse euch hinaus in die weite Welt und ihr habt neun Wochen Zeit, euch auf die Suche nach einer Spur von euch selbst zu begeben.“ Verwirrt blickten sich die jungen Menschen an. Eine Spur von ihnen selbst? Was mochte damit gemeint sein? Und wo ließ sich so eine Spur finden? Die Lehrerin lächelte und hob wieder an zu sprechen: „Wenn ihr eine Spur oder gar einen Teil von euch selbst sucht, macht ihr euch auf eine mitunter gefährliche Reise. Ihr könntet Dinge entdecken, die euch nicht gefallen oder die euch auch erschrecken. Viel Neues und Aufregendes liegt dabei vor euch, ihr werden Abenteuer erleben und Erfahrungen machen, ihr werdet glücklich sein und auf Wolken tanzen – und ihr werdet verletzt werden und das Salz eurer Tränen schmecken. Dieses Risiko müsst ihr eingehen und daran werdet ihr wachsen und euch entwickeln. Am Ende dieser schwierigen Reise werdet ihr euch selbst finden und nur wer sich ganz selbst gefunden hat und sich ganz erkennt, kann sein Glück und seine Zufriedenheit erkennen.“ Damit stand sie immer noch lächelnd auf, nahm ihre Brille ab, betrachtete die vertrauten Gesichter eingehend und sagte: „Ich wünsche euch allen eine gute Reise und viel Erfolg bei der Suche. So, wie ich euch jetzt vor mir sehe, werde ich euch nie wieder zusammen sehen. Und wenn ihr wieder zusammenkommt, werdet ihr alle ganz anders sein. Ich freue mich schon jetzt auf diesen Augenblick und wünsche euch einen schönen Sommer.“ Sie nickte ihnen noch einmal freundlich zu, so wie man alten Freunden zum Abschied zunickt, und verließ die Klasse.

Die Schülerinnen und Schüler wussten im ersten Moment wenig mit diesen Worten anzufangen, verstanden aber, dass ihre Aufgabe sie weg von diesem Ort führen würde. Nach vielen Verabschiedungen, die nicht ohne Tränen verliefen, war auch der Letzte von ihnen aus dem Gebäude gegangen und in den heißen Sommer, der so viele Veränderungen bereithalten würde, aufgebrochen.

Neun Wochen vergingen und als der Herbst sich anschickte, wieder einmal das Land zu besuchen, die ersten Bäume sich verfärbten und ihre Blätter zu fallen begannen, kamen viele der Schülerinnen und Schüler wieder zurück. Doch nicht alle, ein Teil von ihnen begab sich in andere Schulen, um dort ihren Weg fortzusetzen. Anfangs fehlten sie noch in der Gruppe, doch nach einigen Wochen waren ihre Plätze von anderen Schülerinnen und Schülern eingenommen worden, die neu in die Klasse gekommen waren und bald war es normal, dass sie nicht mehr da waren. Sie wurden zu Erinnerungen, über die man manchmal sprach, und die Worte, die sie damals gesprochen hatten, verblassten immer mehr. Die eigentümliche Kraft dieser Schule verschluckte sie und verband die Gebliebenen mit den Neuen, etwas Neues entstand.

Von der Aufgabe sprach niemand und schon gar nicht darüber, was sie alle erlebt hatten, als sie versucht hatten, sie er erledigen. Auch die Lehrerin kam nie darauf zurück, doch ihr war bewusst, dass keiner sie vergessen hatte. Die Erlebnisse dieses Sommers wirkten bei ihnen unbewusst nach, alle hatten zumindest eine kleine Spur von sich selbst gefunden. Einige deutlicher, andere nur sehr verschwommen und nicht alle hatten es gewagt, ihr zu folgen. Für viele war es bequemer, so zu sein, wie alle anderen, auch wenn sie sich dafür verbiegen mussten, weil sie so eben nicht sie selbst sein konnten. Die anderen hatten erste Schritte auf dem Weg getan, der ihnen – und nur ihnen – nun offenstand und der gefährlich und für sie nun notwendig war.

Die Jahre vergingen und als drei weitere Sommer ins Land gezogen waren, lud der Direktor zu einem großen Ball, zu dem auch diejenigen geladen waren, die in die Ferne gezogen und ihr Glück anderswo gesucht hatten. Vier Jahre war es nun her, dass viele von ihnen wieder vereint waren und ihre alte Lehrerin hatte recht behalten: Sie waren völlig anders. Aus Kindern waren junge Erwachsene geworden, die sich der ehedem gestellten Aufgabe immer noch manchmal bewusst waren und die ihren Platz in der Welt suchten. Sie unterhielten sich und ganz selten wurde nun auch noch davon gesprochen. Man scherzte darüber und fragte die anderen lachend, ob sie sich selbst schon gefunden hätten. Und doch war ihnen allen ganz deutlich, dass es eigentlich nichts Lustiges war und dass sie sich mittlerweile alle auf der Suche befanden, wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst waren. Auch die Klassenlehrerin bemerkte das und lächelte bei dem Gedanken daran, was sie ihren Schützlingen aufgetragen hatte. Die Uhren zeigten Mitternacht und der Ball strebte seinem Höhepunkt entgegen. Niemand musste beim zwölften Glockenschlag zuhause sein und deshalb blieben alle noch lange beisammen, feierten ein rauschendes Fest und erfreuten sich der Gesellschaft, die sie lange Jahre nicht gehabt hatten.

Am nächsten Morgen, als sie erwachten, dachten die meisten von ihnen abermals daran, welche Aufgabe sie vor so langer Zeit gestellt bekommen hatten und wie weit sie dabei schon gekommen waren. So viele Erlebnisse und Erfahrungen, so viele Glücksmomente und Enttäuschungen, so viele neue Menschen, die gekommen und wieder gegangen waren. Eine kleine Spur von sich selbst hatten alle gefunden und einige von ihnen waren sich selbst schon viel näher gekommen. Für sie war das Urteil der Anderen wenig bis gar nichts mehr wert, weil sie wussten, wer sie waren und wie sie leben konnten, wenige von ihnen sogar, wie sie leben mussten. Und trotzdem suchten sie alle noch weiter, um eines Tages ihr Glück und ihre Zufriedenheit in sich selbst zu finden.

 

Und wenn sie sich nach vielen weiteren Jahren wieder treffen würden, würden sie lächeln und nicht mehr darüber sprechen. Es waren nie wieder alle beisammen, nie fanden alle Zeit, nicht allen war es wichtig genug. Aber diejenigen, die kamen und die ihren Weg zu sich selbst erfolgreich gegangen waren, würden spüren, dass es den anderen auch gelungen war. Und wenn ihre alten Lehrer auch dabei sein würden, würde es ihnen ganz genauso ergehen. Und sie würden sich für die wunderbaren Menschen, denen am Anfang dieser Geschichte diese Aufgabe gestellt worden war, sehr freuen. Und auch das war ein Teil dieses Besonderen, das über der alten Schule lag und bis heute liegt.

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